Als ich das Buch in der Buchhandlung aus dem Regal zog, war ich ein bisschen enttäuscht. Das war gar kein richtiges Buch! Klein und dünn, gerade mal knapp 170 Seiten lang. Es war optisch so anders, wie ich es mir vorgestellt hatte. Der Grund, warum ich mir diese Lektüre kaufen wollte, war der Umstand, dass sie auf der Literaturliste, der Weiterbildung mit der ich beschäftigt war, für das Selbststudium aufgeführt war.
Nun, als ich das Buch - äh Büchlein zur Kasse trug, war ich mir noch nicht bewusst, was für ein Feuerwerk an Input mich beim Lesen erwarten würde.
Es stellte sich heraus, dass das Buch dem Ausdruck "klein, aber oho" - wie mensch so schön zu sagen pflegt - alle Ehre macht. Ich habe das Buch in einem Schnurz verschlungen.
Viel spannendes Wissen konzentriert sich auf engsten Raum und ist trotzdem leicht zu lesen. Die Worte von Jesper Juul sind nicht immer eine warme Seelendusche, sondern oft herausfordernd. Immer jedoch in einer wohltuenden Klarheit und mit überzeugendem Appell an uns Erwachsene, die Kinder zu verstehen lernen und uns für sie einzusetzen - ganz besonders für die in unseren Augen schwierigen Kinder.
In den folgenden Abschnitten werde ich dir keine detailierte Zusammenfassung des Inhaltes geben, sondern lediglich versuchen, einige meiner neu gewonnenen Erkenntnisse, jedoch auch wertvolles mir bereits bekanntes Wissen festzuhalten, da ich nicht möchte, dass es erneut in Vergessenheit gerät. Bist du dabei?
Was hat Aggression mit dem Selbstwertgefühl zu tun?
Das Selbstwertgefühl von uns Menschen hängt unter anderem davon ab, wie wir (und das beginnt bereits in der frühen Kindheit) unsere Selbsterkenntnis trainieren, sprich uns selber in allen Facetten erkennen können. Damit Kinder sich selber erkennen können, sind sie ab Geburt auf das konstruktive Feedback der Erwachsenen, die sie begleiten, angewiesen. Zur Selbsterkenntnis gehört das Erleben UND Integrieren aller Emotionen und Gefühle. Auch der Aggression. Da sie in der gesellschaftlichen Vorstellung jedoch eng mit physischer oder psychischer Gewalt verknüpft ist, setzen wir oft alles daran, aggressives Verhalten schon bei den Kleinsten negativ zu bewerten und mit allen Mitteln zu verhindern. Das ist verheerend, denn dadurch beschneiden wir die kindlichen Möglichkeiten, um ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln zu können.
Aggression als Einladung
Aggressive Emotionen sind ein Vehikel, um wichtige Botschaften zu transportieren. (S.41)
Deshalb sollten wir immer genauer hinschauen UND hinhören, wenn unsere Kinder aggressives Verhalten an den Tag legen. Oder wenn wir selber aggressive Gefühle verspüren.
Juul schreibt, dass die Aggression als "Zahn der Psyche" gesehen werden kann, der uns hilft, unsere Erfahrungen zu zerkleinern, um sie besser kauen und verdauen zu können. (S. 66)
Aggressives Verhalten eines Kindes oder Jugendlichen sollte deshalb immer als Einladung verstanden werden. Eine Einladung dazu, das Leben aus seiner Perspektive zu betrachten. Diese Einladung ist gleichzeitig ein oft missverstandener Hilferuf, die Situation nicht alleine meistern zu können und auf Unterstützung angewiesen zu sein. In unseren erwachsenen Augen mag diese Art von Kommunikation eher ungünstig erscheinen. In Tat und Wahrheit ist es jedoch oft die einzige Sprache, die kleine Kinder gut beherrschen und die ältere Kinder oder Jugendliche immer noch nutzen, weil sie wenig Möglichkeit hatten, ihr Selbstwertgefühl aufzubauen und sich deshalb wertlos fühlen.
Ungefähr die Hälfte aller Kinder werden introvertiert und leicht zu handhaben, wenn sie sich unwohl fühlen. Im historischen Kontext betrachtet erstaunt es nicht, dass es sich dabei grösstenteils um Mädchen handelt. Deshalb sind Jungen immer noch besonders gefährdet, zur Zielscheibe der Erwachsenen zu werden, weil sie ihren Mangel an Wohlbefinden eher nach aussen tragen und ihre Aggressionen ausleben. Dies passt auch zu den Klischees der erwachsenen Rollenbilder.
Konstruktive versus destruktive Aggression
Es ist wichtig, die konstruktive Aggression von der destruktiven, die mit Gewalt gegen andere Menschen oder gegen sich selber einhergeht, zu unterscheiden. Aggression in konstruktiver Form bringt uns weiter, lässt uns Ziele verfolgen und Dinge erreichen. Die destruktive Aggression hat die kommunikative Funktion verloren. Gerade für Kinder ist es ausserordentlich wichtig, ein Gegenüber zu haben, welches ihnen dabei hilft, die Botschaft hinter ihrer Aggression zu ergründen, indem das destruktive Verhalten nicht einfach unterbunden und womöglich bestraft wird, sondern sorgfältig wahrgenommen und liebevoll begleitet wird.
Es erstaunt nicht, dass Menschen, die in ihrer Kindheit die Möglichkeit hatten, ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln, in dem sie sich durch ihre Emotionen erfahren konnten und dabei konstruktiv begleitet wurden, weniger destruktive Aggressionen an den Tag legen.
Es darf in unserer Gesellschaft Ziel sein, möglichst wenig destruktive Aggression anzutreffen. Jedoch sollten wir uns bewusst sein, dass der Reifungsprozess von Kindern, sowie eines unreifen Erwachsenen aggressive Gefühle immer in destruktiver Form ausdrückt. Folglich müssen wir mit aller Kraft verhindern, dass dieser natürliche Prozess nicht mit Bestrafung oder Moral verhindert wird, sondern konstruktiv unterstützt wird.
Zutaten für konstruktiven Umgang mit Aggression beim Gegenüber
Dialog, Interesse, Neugierde, Anerkennung, persönliches Feedback sind Qualitäten mit denen wir aggressivem Verhalten bei Kindern begegnen können. Dazu braucht es keine Ausbildung zum Psychotherapeuten und es handelt sich dabei auch nicht um eine Methode. Vielmehr ist es eine Lebenseinstellung, wie wir auf Menschen reagieren möchten, deren Verhalten andere Menschen oder sie selber verletzt.
Es gab noch einiges mehr, was mich bewegt und angesprochen hat. Doch dieser Text soll nicht zu lang werden, damit er auch tatsächlich bis zum Schlusszitat gelesen wird.
Voilà:
Kinder darin zu begleiten, ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln, sollte für uns als Eltern und Pädagogen der Hauptfokus sein, nichts kann Gewalt und Aggression effektiver vorbeugen.
Dein grundlegendes Werkzeug ist deine Empathie - deine Fähigkeit, die Welt des Kindes durch seine Augen zu sehen und durch seine Persönlichkeit zu erfahren.
Jesper Juul
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